Utopien eines Realisten

Vom Dresdner WG-Tisch bis zur ersten Mondstadt: Das Handbuch folgt Niwa und Puk, Rasha und Lissa, die aus Wut konkrete Politik machen – Grundeinkommen, bezahlbare Mieten, autofreie Quartiere, basisdemokratische Gewerkschaften. Zwischen Familiengeschichte, Kneipenplenum und Orbit wird aus Ideen gelebte Praxis – bis zur Verfassung der Republik Luna. Ein Roman und Werkzeugkasten zugleich: zärtlich, wütend, humorvoll und anpackend. Für alle, die nicht mehr warten wollen, sondern wissen möchten, was zu tun ist.

Buch "Das Handbuch – Utopien eines Realisten", aufgeschlagen liegend mit dem Cover nach oben.

Bestellung im Shop des Neustadt Art Kollektiv

Leseprobe

»Ihr habt doch alle den Arsch offen!«

Niwa springt auf, holt tief Luft und versucht ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. Die halblangen, in Strähnen lila und grün gefärbten Haare rutschen ihr ins Gesicht. Mit einer hastigen Handbewegung wischt sie sie hinter die Ohren und stützt die Hände auf den Tisch.

»Seit über ’nem Jahrzehnt geht die Scheiße hier schon und ihr kommt mit den gleichen dämlichen Lösungen wie immer. Straßen blockieren, Politiker anschreiben, noch ’ne Umweltpartei gründen. Es muss euch doch klar sein, dass das nix bringt. Wollt ihr in zehn Jahren immer noch hier rumsitzen und die wieder gleiche Kacke durchkauen? Rafft euch mal! Wenn wir etwas bewegen wollen, dann muss das wehtun, es muss die da oben zwingen, ihre Gewohnheiten zu ändern!«

Die Menschen am Konferenztisch sind still. Einige schauen zu Boden, andere blicken aus dem Fenster, jemand spielt mit seinem Tabletstift. Nur Puk schaut sie mit einem leichten Grinsen an.

»Was ist so lustig, Kackbratze!« Niwa versucht ihr altes Nokia zu krallen, dass dabei vom Tisch auf den Boden rutscht. Geräuschvoll schiebt sie den Stuhl zurück, sammelt es fahrig auf und steckt es in die Tasche ihrer Jeansjacke, die mit Buttons und Patches übersäht ist. Sie schnaubt noch einmal und verlässt raschen Schrittes den Saal der Wir AG.

»Was war das denn?«, entfährt es einer jungen Frau.

»Das ist Niwa«, sagt Puk während er anfängt eine Zigarette zu drehen. »Ich muss sagen, sie hat nicht ganz Unrecht. Im letzten Jahrzehnt hat sich einiges getan, allerdings nur auf politischer Ebene. So lange wir jedoch eine abgehobene Milliardärsliga haben, die den neo-liberalen Status Quo erhält, brauchen wir von CO2-Neutralität nur zu träumen.«

»Aber wir haben doch das Verbrennerverbot!«

»Ja, gutes Beispiel«, sagt Puk. »Da wird fleißig dran gesägt, mit Ausnahmen aufgeweicht, verschoben. Obwohl längst klar ist, dass Öl knapp und E-Fuels nicht billig zu haben sind. Und es kann nun wirklich niemand sagen, man konnte sich nicht vorbereiten, man hätte nicht genug Zeit gehabt. Egal, macht ihr hier mal euer Ding, ich schau mal, ob sich die kampfbereite Jugend noch einfangen lässt.« Er nimmt die Zigarette, packt das Drehzeug in seine Harrington und folgt Niwa nach draußen.


»Also«, spinnt Niwa den Faden weiter, »was macht ihr hier so?«

Puk nimmt den Faden auf: »Für gewöhnlich tagesaktuelle Dinge durchgehen und Ideen daraus spinnen, Aktionen planen.«

»Schon klar«, sagt Niwa, »geht’s konkreter?«

Matze hakt ein: »Da gibt’s verschiedene Themen. Lokal geht es immer noch darum, die Stadt resilienter gegen den Klimawandel zu machen. Also wie wir die Menschen weiter weg vom MIV25 bekommen, Plätze entsiegeln, die Schwammstadt und Begrünung voranbringen.«

»Mehr Lastenräder ist da wichtig«, ergänzt Dom. »Und fürs Klima ist Second Hand und Recycling gut. Auch wenn wir wissen, dass der große Brocken die Industrie ist.« Er zuckt mit den Schultern.

»Und auf höherer Ebene überlegen wir, wie die jetzige BGE-Krücke für Deutsche zu einem BGE für alle werden kann«, ergänzt Anna, »Argumente sammeln, Gutachten anstoßen, das alles an die Entscheidungstragenden heranbringen. In drei Jahren ist wieder Wahl, wir hoffen, das als Wahlgeschenk einzufädeln. Ist halt schwierig, so lange die Migrant·innen zwar beim Fachkräftemangel helfen dürfen, aber kein Wahlrecht haben. Vielleicht bekommen wir die Parteien dazu, potentielle Wählende in ihnen zusehen. Auch wenn mir diese Objektivierung zutiefst zuwider ist. Wahlrecht gekoppelt an die Länge des Aufenthalts oder wer zum BIP beiträgt, soll generell Wahlrecht bekommen…«

Hugo unterbricht ihren Redeschwall: »Und währenddessen die Menschen wach halten, für Dinge, die unter den Tisch gekehrt werden. Rassistische Polizeimorde, Gewalt von Nazis, Abschaffung von bereits erstrittenen Fortschritten, sowas eben. Und die Themen nicht nur in der bunten Neustadt präsentieren, sondern dort, wo es die Menschen verdrängen wollen.« Er grinst.

Jana richtet sich auf: »Dabei uns nicht vergessen«, sagt sie bestimmt. »Neben dem ganzen geistigen Futter machen wir regelmäßig Gemeinschaftsdinge: Gemeinsame Ausflüge, Konzert- und Festivalbesuche, Fahrradtouren und sowas. Nächste Woche wollen wir im Apark grillen, komm doch gern dazu.« Sie lächelt Niwa an.

Puk schaut ebenfalls auf Niwa: »Konkret genug?«, fragt er amüsiert.


Während er sucht, zieht sie an ihrem Spliff und schaut sich um. Sie sitzen auf einer Terrasse vor dem Blondes auf der Louisenstraße. Aus Puks Erzählungen weiß sie, dass das vor ein paar Jahren noch Parklet hieß. Damals mussten die Kneipeninhabenden bei der Stadt beantragen, Parkplätze für den Bau einer Außenterasse nutzen zu dürfen. Diese mussten im Winter wieder abgebaut werden und im Frühling neu beantragt. Sie schüttelt den Kopf beim Gedanken daran, wie absurd das ist. Jetzt sieht sie keine Autos mehr, gegenüber beim Lappen stehen ebenfalls Tische und Stühle. Vor den Wohnhäusern gibt es kleine Hochbeete und die Stadt hat in regelmäßigen Abständen Bäume gepflanzt, neben denen eine Reihe Fahrradbügel eingelassen sind. Der Asphalt ist verziert mit unterschiedlichen Kreidemalereien der Kinder, die hier tagsüber spielen. Etwas weiter weg hört sie Gelächter von anderen Außensitzen. Sie atmet die Atmosphäre tief ein und hängt ihren Gedanken nach.